Es ist eine der ersten Fragen, die man sich als Autor stellen sollte: Welche Erzählperspektive wähle ich für meine Geschichte? In die Entscheidung spielen viele Faktoren rein: Wer ist meine Zielgruppe und welche Erzählweise ist die gewohnt? Wie viele Plotlines habe ich und muss ich die Perspektive zwischendurch wechseln? Welche Gefühle möchte ich bei meinen Lesern auslösen und welche Erzählweise ist dabei besonders hilfreich? Die Wahl fällt nicht leicht, und viele Autoren haben schon ein ganzes Buch umgeschmissen, nur weil die Perspektive nicht stimmte – Arbeit, die man sich ersparen kann, wenn man sich vorher genaue Gedanken macht.
Doch welche Erzählperspektiven gibt es überhaupt? In Zentrum stehen die großen Drei: der auktoriale, der personale und der Ich-Erzähler. Ich werde im Folgenden der Lesbarkeit halber „der Erzähler” als Genus wählen, meine aber natürlich auch weibliche oder non-binary Perspektiven.
Der auktoriale Erzähler
Er wird auch als allwissender Erzähler bezeichnet und ist genau das: allwissend. Wie Gott schwebt er über dem Geschehen und beobachtet aus der Ferne, was passiert. Er kann in die Köpfe der Figuren springen und ihren Gedanken zuhören, Schauplätze wechseln und auch mal seine eigene Meinung als Kommentar einfließen lassen. Der auktoriale Erzähler ist eine alte Erzählform, viele der großen Klassiker sind aus dieser Perspektive erzählt, unter anderem auch die Märchen der Gebrüder Grimm – jetzt haben Sie wahrscheinlich schon ein paar Sätze im Ohr.
In den letzten Jahren ist der allwissende Erzähler ein wenig in Verruf geraten. Er gilt als verstaubt, wenig emotional und sperrig. In der Tat macht die große Distanz zwischen Erzähler und handelnden Figuren es nicht ganz leicht, große Gefühle glaubhaft rüberzubringen, ohne dabei urteilend oder bemitleidend zu klingen. Demgegenüber eignet er sich ausgezeichnet für Satire und humorige Prosa, weil er als Kommentator eben die Distanz mitbringt, die es uns erlaubt, auch über den Schaden anderer zu lachen.
Der auktoriale Erzähler weiß alles über die Welt der Geschichte und kann uns alle Informationen dann zur Verfügung stellen, wann er es möchte. Er sieht auch Dinge, denen kein Mensch beiwohnt, ein ungemeiner Vorteil, wenn man Atmosphäre schaffen oder versteckte Hinweise geben will. Allerdings ist genau das auch eine besondere Schwierigkeit, wenn man als Autor den auktorialen Erzähler wählt: Er verlangt einem einen sehr feinfühligen Umgang mit Informationen ab. Autoren sollten unbedingt vermeiden, zu sehr zwischen den Gedanken und Eindrücken der Personen hin- und herzuspringen und sich stattdessen auf die Handlung konzentrieren, sonst wird es für den Leser schnell verwirrend.
Eines meiner Lieblingsbücher ist übrigens aus dieser Perspektive geschrieben: „Die unendliche Geschichte” von Michael Ende. Hier ein Beispiel:
Der personale Erzähler
Er ist der derzeit wahrscheinlich populärste Erzähler und bevölkert alle Genres, Altersklassen und Zielgruppen. Der personale Erzähler berichtet aus der dritten Person, ist aber im Gegensatz zum auktorialen Erzähler Mitten in der Geschichte. Wie ein Schatten sitzt er auf der Schulter einer Figur und sieht alles durch deren Augen, hört deren Gedanken und weiß alles, was diese Person weiß. Dies bringt ihn und damit den Leser ganz nah an das Geschehen, der Leser wird einbezogen und fühlt mit der Figur, auf dessen Schulter der Erzähler sitzt.
Und eben das ist seine Einschränkung: Er weiß nur das, was diese Person weiß, kann nur sehen, was diese Person sieht, und alle anderen Personen werden dem Leser so präsentiert, wie sie dieser Figur erscheinen. Wenn sie angelogen wird, wird auch der Leser angelogen, der Erzähler kann nicht eingreifen und die Lüge entlarven. Dieser eingeschränkten Informationslage muss der Autor unbedingt folgen. Warum? Stellen Sie sich die Erzählperspektive wie eine Kamera vor, durch deren Linse der Leser dem Geschehen folgt. Wenn die Figur und damit die Kamera in eine Richtung schauen, kann der Leser nicht sehen, was hinter ihm passiert. Erzählt der Autor es trotzdem, bricht das die Harmonie des Erzählflusses auf und der Leser wird aus der Fantasie gerissen.
Hier liegt die größte Schwierigkeit des personalen Erzählers: das Vermeiden von Headhopping, also dem Springen der Kamera von einer Figur zur anderen. Wenn der Leser es sich auf einer Schulter gemütlich gemacht hat, bringt es ihn aus dem Konzept, wenn er sich plötzlich auf einer anderen Schulter befindet, nur um ein paar Sätze später zur ersten Figur zurückzuspringen. Autoren müssen sich für eine Figur entscheiden, aus deren Perspektive sie personal erzählen wollen.
Zumindest pro Kapitel. Denn gleichzeitig ist der personale Erzähler sehr geeignet für Perspektivwechsel. Diese müssen allerdings in sinnvollen Abschnitten passieren, zum Beispiel von Kapitel zu Kapitel. Ein großartiges Beispiel hierfür ist die „Game of Thrones”-Reihe von George R. R. Martin, in der jedes Kapitel mit der Person überschrieben ist, deren Perspektive der personale Erzähler einnimmt. Wer viele Erzählstränge in einem Buch vereinen will, sollte sich den personalen Erzähler genau ansehen.
Der Ich-Erzähler
Die größtmögliche Nähe schaffen Autoren mit dem Ich-Erzähler. Er ist quasi mit der Hauptfigur identisch, die uns aus erster Hand berichtet, was ihr widerfährt oder widerfahren ist. Die Informationslage ist hier ähnlich eingeschränkt wie beim personalen Erzähler: Der Leser weiß nur das, was der Ich-Erzähler weiß. Allerdings kann der Ich-Erzähler – vor allem dann, wenn das Erzählte in der Vergangenheit liegt – Kommentare einbringen und sein Wissen über den Ausgang der Geschichte bereits früh einfließen lassen.
Vor allem in der Jugendliteratur ist momentan sehr beliebt, den Ich-Erzähler mit der Erzählzeit des Präsens zu kombinieren, wie zum Beispiel in der „Tribute von Panem”-Reihe von Suzanne Collins. Diese Kombination schafft eine dringliche Unmittelbarkeit, der Leser erlebt quasi in Echtzeit das, was der Figur passiert. Hier ist wenig Raum für Reflexionen und erklärendes Beiwerk, für lange Beschreibungen bleibt wenig Zeit, und wichtige Informationen über die Welt oder die Vorgeschichte müssen klug in Dialogen oder auf andere Weise präsentiert werden.
Eine weitere Besonderheit an dieser Perspektive ist die Sprache. Die Hauptfigur erzählt selbst ihre Geschichte, dementsprechend muss die Sprache zur Figur passen. Auch das schafft Nähe, vor allem in Genres wie Chick Lit oder Liebesromanen, die klingen, als würde ein Freund oder eine Freundin dem Leser die Geschichte persönlich erzählen.
Diese Nähe kann jedoch auch in anderen Genres gute Dienste leisten. Bret Easton Ellis’ Meisterwerk „American Psycho” ist aus der Ich-Perspektive eines New Yorker Yuppies und Serienmörders geschrieben. In den Geist dieses Mannes einzutauchen, macht die faszinierende und erschreckende Eindringlichkeit des Buches erst möglich.
Weitere Erzählperspektiven
In seltenen Fällen findet man andere Perspektiven und Techniken, die einen besonderen Charme mit sich bringen.
Ich persönlich liebe die Perspektive der zweiten Person Singular: du. Die Hauptfigur ist eine genau definierte Person, über die man auch personal in der dritten Person erzählen könnte, aber statt „er” oder „sie” wählt der Autor „du”. Der Effekt ist für den Leser sehr spannend, weil er sich automatisch angesprochen fühlt. Beispiele hierfür sind Stewart O’Nans „Das Glück der anderen” oder die Kurzgeschichte „That thing around your neck” von Chimamanda Adichie aus dem gleichnamigen Buch. Diese Perspektive ist schwer zu beschreiben, deswegen ein Beispiel:
Jeffrey Eugenides erzählt seine Geschichte „Die Selbstmord-Schwestern” aus der Perspektive einer Gruppe von Jungen, also mit einem „wir”. Er charakterisiert damit den faszinierten Blick dieser Jungen auf die fünf Schwestern, ohne einen in den Vordergrund zu drängen. Auf diese Weise schafft er es, einen subjektiven Blick herzustellen, ohne aber den Betrachter in den Vordergrund zu drängen. Die wichtigen Personen bleiben immer die Schwestern und ihre Eltern. Mal streut er hier und da eine Episode ein, in der einer der Jungen alleine handeln darf, den Schwestern vielleicht begegnet, aber immer erzählen sie als Kollektiv.
Und auch Mischformen sind möglich. In „Die Bücherdiebin” von Markus Zusak werden auktorialer und Ich-Erzähler kombiniert, nämlich aus der Perspektive des Todes, der über das vom zweiten Weltkrieg geschüttelte Deutschland reist, um die Seelen der Verstorbenen einzusammeln, und dabei immer wieder auktorial von oben auf das Leben der Bücherdiebin hinabblickt. Manche Autoren benutzen auch unterschiedliche Erzählperspektiven für verschiedene Erzählstränge – zum Beispiel wird ein Handlungsstrang personal, der andere von einem Ich-Erzähler erzählt. Den Möglichkeiten ist hier keine Grenze gesetzt, solange man zwei Dinge beachtet: Die Perspektive muss immer klar sein und darf den Leser nicht verwirren, und sie muss konsequent durchgezogen werden.
Fazit
Die Wahl der Erzählperspektive ist einer der wichtigsten Schritte bei der Gestaltung einer Geschichte und sollte so früh wie möglich getroffen werden. Wer sich nicht sicher ist, versucht am besten, das erste Kapitel mal personal, mal als Ich-Erzähler und mal auktorial zu erzählen. Im Schreibfluss wird sich schnell entscheiden, welche Perspektive sich für die Geschichte besonders gut eignet.
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