Teil 2 der Serie über Plotstrukturen: Viele Romane werden nicht aus einer, sondern aus mehreren Perspektiven erzählt. Heute sprechen wir darüber, wie man die passenden Perspektiven wählt und richtig gewichtet.
Eine Geschichte aus mehreren Perspektiven zu erzählen, hat viele Vorteile. Es bringt Abwechslung in ein Buch, das vielleicht etwas langweilig wäre, hätten wir nur die Perspektive einer einzigen Person gewählt. Außerdem gibt es uns die Möglichkeit, Nebenplots und Szenen des Hauptplots zu erzählen, an denen unsere Hauptfigur nicht teilnimmt. Und wir können anderen Figuren mehr Tiefe verleihen, indem wir ihnen das Zepter für eine Weile in die Hand geben. Deswegen ist es sehr verführerisch, sich in eine Geschichte mit mehreren Erzählperspektiven zu stürzen. Doch Vorsicht, hier gibt es einiges zu beachten.
Vorweg: Diese Erläuterungen beziehen sich hauptsächlich auf Romane, die personal oder in Ich-Form erzählt werden. Da ein auktorialer Erzähler ja sowieso alles weiß und überall sein kann, stellt sich die Frage für ihn eher seltener, aber auch in diesen Fällen sollte man sich als Autor*in sehr genau überlegen, welcher Figur der auktoriale Erzähler gerade die meiste Aufmerksamkeit schenkt. Wer mehr über die verschiedenen Formen lernen möchte, kann hier nachlesen.
Wer soll was erzählen?
Bevor wir loslegen, sollten wir uns genau überlegen, welche Figuren wir was erzählen lassen wollen. Diese Wahl sollte bewusst getroffen werden und eine erzählerische Absicht haben. Wollen wir zum Beispiel eine Lovestory aus der Sicht beider Partner erzählen? Und wenn ja, welche Szene, welche Begebenheit erleben wir aus wessen Sicht? Und warum? Was hat diese Person den Leser*innen in dieser Situation mitzuteilen, das die andere nicht erzählen kann? Falls ihr euch nicht sicher seid, könnt ihr euch immer fragen, welche der Figuren in dieser Szene die größte Entwicklung durchmacht. Dies ist die Person, die diese Szene erzählen sollte.
Hauptplot mit zwei (oder mehr) Perspektiven
Diese Frage, wer welche Szene erzählen soll, stellt sich vor allem in Geschichten, die nur einen Hauptplot haben oder in denen die Figuren, aus deren Perspektiven erzählt wird, viel Zeit miteinander verbringen. Schnell stolpern Autor*innen hier in die Falle, zu oft hin- und herzuspringen oder ein und dieselbe Situation mehrmals zu erzählen, damit klar wird, wer wann was gedacht und gefühlt hat. Das kann sperrig und langweilig werden, weil es die Handlung im Zweifelsfall ausbremst. Denkt immer daran: Leser*innen mögen es nicht, wenn ihnen etwas erzählt wird, das sie schon wissen.
Ausnahme: Das Rashomon-Prinzip
Diese Erzählweise geht zurück auf den Film „Rashomon - das Lustwäldchen” von Akira Kurosawa. Hier wird das Phänomen analysiert, dass ein Ereignis von verschiedenen Menschen völlig unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Wer dieses Prinzip nutzen möchte, ist natürlich gezwungen, die Handlung, also das, was tatsächlich passiert, zu wiederholen. Durch die unterschiedliche Wahrnehmung der Situation ändert sich das Geschehene aber so drastisch, dass kaum von einer Wiederholung gesprochen werden kann. Die Unterschiede der beiden Darstellungen derselben Situation eröffnen ein hoch interessantes Spannungsfeld. Ein aktuelles Beispiel ist die Serie „The Affair”, die das Rashomon-Prinzip eindrücklich umsetzt.
Hauptplot und Nebenplots
Ein häufiges Phänomen ist es, dass wir einen Hauptplot verfolgen, der aus der Perspektive des Protagonisten erzählt wird, und einen oder mehrere Nebenplots, die aus der Perspektive einer oder mehrerer anderer Figuren erzählt werden. Diese Struktur findet man häufig in Kriminalromanen oder Thrillern. Der Hauptplot dreht sich um die Kommissarin oder eben diejenige Figur, die dem Geheimnis auf die Spur kommen muss, und wird aus deren Perspektive erzählt. Die Nebenplots führen uns zum Täter, zu einem der Opfer oder zu den Verschwörern und erzählen uns, was ihnen widerfährt, während die Kommissarin auf ihrer Fährte ist.
Die Gewichtung ist in diesen Fällen ganz klar: Hauptaugenmerk liegt auf dem Hauptplot, er bekommt die meiste Aufmerksamkeit und dementsprechend auch den meisten Raum. Die Einschübe des Nebenplots sollten wohl dosiert sein, nicht überhandnehmen und immer dann kommen, wenn eine wichtige Information das Spannungsniveau der Leser*innen in die Höhe treiben kann.
Wer diese Nebenplotszenen erzählt, liegt bei euch. Ob es viele verschiedene oder nur eine Person sind, hängt ganz von der Geschichte ab. Wichtig ist, dass dahinter eine Struktur steckt. Sind es zum Beispiel immer die Opfer, die am Ende der Szene den Tod finden? Ist es nur ein Opfer, das gerade vom Täter festgehalten wird? Sind es die wichtigsten Personen, die an der Verschwörung beteiligt sind und vielleicht auch miteinander im Konflikt stehen? Ist es ein einsamer Auftragskiller, dessen Hintergrund ihr beleuchten wollt? Es liegt bei euch, aber es sollte eine Absicht hinter eurer Wahl stecken.
Wann und wie soll die Perspektive wechseln?
Die einfachste und klassische Möglichkeit, zwischen den Plotsträngen und somit den Perspektiven zu wechseln, ist, ein neues Kapitel zu beginnen. Innerhalb des Kapitels kann dann eine Perspektive beibehalten werden, im nächsten Kapitel können wir zur nächsten Perspektive kommen. So behalten die Leser*innen immer den Überblick und wissen genau, auf welche Figur und Geschichte sie sich gerade einlassen.
Natürlich gibt es auch andere Möglichkeiten, zum Beispiel unterschiedliche Formatierung (also Schriftart oder andere visuelle Aspekte), Organisation des Layouts (wenn zum Beispiel eine Perspektive links und die andere rechts auf der Doppelseite gedruckt ist) oder klare sprachliche Marker, also ein deutlicher stilistischer Unterschied. Ihr wisst am besten, was zu eurer Geschichte passt. Spielt mit den Möglichkeiten, um die für euch beste herauszufinden.
Verwirrung sollte immer vermieden werden. Die entsteht, wenn ihr zu häufig wechselt oder Übergänge nicht formal sichtbar sind. Sobald die Leser*innen in ihrem Lesefluss aufgehalten werden und bewusst darüber nachdenken müssen, wem sie gerade folgen, verliert sich der Spaß. Achtet also darauf, das Lesen nicht unnötig kompliziert zu machen.
Wie immer gilt: Nichts von dem, was ich hier erläutert habe, ist in Stein gemeißelt. Ihr werdet immer virtuos erzählte Ausnahmen finden, die mit Struktur und Perspektive spielen und ganz ungewöhnliche Wege beschreiten. Und wenn ihr selbst ein Projekt im Kopf habt, das mit allem bricht, was ich hier erzählt habe, dann schreibt es, und zwar genau so, wie ihr es für richtig haltet. Ich möchte lediglich denjenigen Hilfestellungen geben, die nicht wissen, wie sie ein komplexeres Projekt angehen sollen. Die können sich in diesem Artikel vielleicht ein paar Ideen holen.
Im nächsten Blogbeitrag im Januar widmen wir uns parallelen Plots und episodischem Erzählen. Bis dahin wünsche ich euch friedliche Feiertage, und bleibt gesund.
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